Christopher Böll, Soldat †

«Komm Christopher, schlag mich, zeig mir was du drauf hast. Schlag mich, aber hey, nicht wie ein Mädchen, hau härter, sei ein Mann, hau mir eine in die Fresse. Bring mich zum Schweigen, stop meine dummen Sprüche, bring endlich Ruhe in die Bude.»
Der neunjährige Christopher sass auf dem fettlaibigen Bauch seines Vaters, wobei ein zittriges Beben durch seinen Körper strömte, ein Gemisch von Wut und Erregtheit und sein ganzes Gesicht war mit Röte, Schweisströpfchen und Runzeln der Anstrengung gefüllt. Die Augen hatten sich zu einem Spalt verkleinert und starrten besinnungslos auf den Vater. «Ja, Nein, Nein, Ja. Hau ihn, so mit voller Wucht.», kitzelte es in Christophers Hirn. Die Finger der rechten Hand ballten sich zu einer steifen Faust und angespannte Muskelstränge vergrösserten den Oberarm nach allen Seiten so sehr, dass einem das Gefühl überkam, sie werden bald aus der Haut springen. Munzig kleine Tränen rannen Christopher tonlos aus den Augen ins Leere. Mit einem dumpfen Knall landete die Faust auf der Nase des Vaters, gefolgt wurde dies von einem Geräusch, wie man es hört, wenn ein Hund in ein Knochenstückchen beisst. Ein Rinnsaal von Blut floss dem Vater über das Kinn. Christopher starrte auf die Nase und mit einer Hand versuchte er schnell die Tränentropfen aus dem Gesicht und die Schweissperlen aus den Tälern seiner Runzeln zu wischen. Dabei berührte ein blutverschmierter Finger seine Lippe und zog eine rote Line nach sich, die unverzüglich von der Zunge weggeleckt wurde. «Wie bitter-süss Blut doch schmecken kann», wisperte es in Christophers Hirn.
Die Stille wurde unterbrochen durch ein schallendes Lachen des Vaters. «Endlich hast du es geschafft! Komm gib mir deine Hand und hilf mir auf die Beine. Ja, du hast gewonnen. Der Sieg gehört dir. Werde wohl meine dummen Sprüche in der Schublade lassen müssen.»
Mit Schreck gefüllten Glucksaugen eilte die Mutter in die Stube und beguckte die beiden mit einem prüfenden Blick. «Ist jetzt endlich Ruhe, ihr beide seht aus wie aus dem Krieg zurückkehrende Kämpfer.» Mutters Augen und Mund lächelten ihre beiden Männer sternstrahlend an. Vater und Sohn schauten sich in die Augen und Gesichtsausdrücke von Stolz fanden einen Weg in beide Gesichter. Der Vater legte seinen rechten Arm auf die Schulter seines Sohnes und konnte auch unter grösster Anstrengung die Erscheinung eines verschmitzten Lächelns, das sich bis über seine Augen hinwegzog, nicht vermeiden.
«Komm, lass uns etwas trinken.» Die Mutter hüpfte schnell in tanzenden Schritten zum Kühlschrank, holte dem Vater ein Bier und einen mit kaltem Wasser getränkten Waschlappen sowie dem Kleinen eine Limonade, diesmal mit der von ihm immer so sehr gewünschten Kohlensäure. Mutter setzte sich mit einem Glas Weisswein zu Vater und Sohn und alle strahlten ein friedliches Lächeln in die Runde. «Prost, Gesundheit!»

«Soldat Christopher Böll, los, marsch, wir müssen aufbrechen. Wo sind die Gedanken nur? Wir müssen um vierzehn Punkt Loch Loch an der Front sein. Trupp IV braucht Unterstützung.» Das Gesicht des Leutnants lag im Schatten seines Helms. Nur sein knapp geöffneter Mund mit hervorstehenden Zähnen waren manchmal zu sehen, in Begleitung einer tiefen, scharf-zischenden Stimme. Besser als sich zu sehen, konnten sie einander riechen, da sich ihre Nasen bei dieser Befehlsausgabe fast berührten. Die menschlichen Düfte wurden durch ihren Hauch ausgetischt, Düfte wie sie entstehen nach Schlaf und abgestandenem Essen.
Christopher versuchte Kindheitserrinnerungen mit leeren Schlucken zu verscheuchen. Eigentlich hatte er diesen Kriegsscheiss seit geraumer Zeit satt. Er verstand schon lange nicht mehr, warum er Frieden zwischen zwei Kriegsparteien erkämpfen sollte, die ihn nichts angingen und sein Heim in keiner Weise bedrohten. Warum mit dem Gewehr rumlaufen, Leute abknallen, egal ob schuldig oder unschuldig, Hauptsache sie waren tot und hatten keinerlei Hoffnung mehr.
Am Zielort versteckte sich Christopher und seine Kameraden um ein kleines Dorf in den Bergen. Angeblich sollten sich hier einige Rebellen versteckt gehalten haben, um ein grosses Arsenal an Munition zu bewachen, die bald an vorderster Front gegen Trupp IV aus dem Hinterhalt gefeuert werden sollte.
«Was willst du, du Ratte? Uns ausspionieren wohl, du gelbe Ratte.»
Der Leutnant hatte den feindlichen Soldaten von hinten im Würgegriff. «Sag, wer ist dein Befehlshaber, wer hat dich geschickt?» Bevor der Gefangene antworten konnte, schnitt der Leutnant dem Gefangenen von der linken zur rechten Seite die Luftröhre auf. Blut bekleckerte die Uniform des Leutnants. «Fuck, eine Ratte weniger, wir sind dem Frieden einen Schritt näher! Sorry, ich konnte nicht mehr warten, hab die Geduld verloren.» Seine Kumpels wandten ihre Blicke ab und schauten für ein paar wenige Sekunden reglos auf den Boden.
«Achtung, Granate!» Sie landete direkt vor Christophers Füssen. Dieser beugte sich flink, hob sie auf, zählte 21, 22, und warf die Granate zurück. Fetzen jeglicher Art flogen. «Was hast du gesagt, einen Schritt näher, ich würde eher sagen 3 Schritte.» Ein verschmähtes Grinsen huschte über Christophers Gesicht.

Christopher stand vor seinem Elternhaus. Nur noch Mutter lebte in diesem Haus, Vater verstarb vor einigen Jahren, als er von einer Leiter stürzte und auf eine Schläfe fiel. Mit seiner rechten Hand streifte Christopher nervös über seine Militärausgangsuniform. Er wollte mögliche Stäubchen wegwischen. Das Körpergewicht verlagerte er in kurzen Abständen vom rechten auf das linke Bein und wieder zurück. Beobachter mögen gedacht haben, dass er entweder Ameisen in der Leistengegend hat oder bald auf der Toilette sitzen muss. Die Tür öffnete sich und gemächlich kam der Kopf der Mutter zum Vorschein. Ihre Augen sowie auch ihr Mund waren weit aufgeschlagen und man hörte keinen Luftzug durch Mund und Nase gleiten.
«Hallo!» Christopher musste dieses kleine Wort aus seinem trockenen Mund rauszwingen.
Tränen liefen der Mutter die Wangen runter. Sie umfasste die Türkante enger und stiess einen schillernden Schrei aus, einer wo man nicht weiss, ob es einem im Knochenmark wehtun oder ob man ihn dort als Massage geniessen soll. Christopher umarmte seine Mutter innig mit seinen muskulösen Armen und doch nur mit einem sanften Druck. Die Mutter hatte ein liebliches Lächeln auf ihren Lippen. Der Bart ihres Sohnes kitzelte sie so sehr auf der Hirnhaut, dass das Lächeln der Glückseligkeit noch breiter rausbrach. Szenen von Umarmung und Löslösung, Lächeln und Tränen, nichtssagenden Sätzen und Worte wie «schön», «lieb», «gut», all dies wechselte sich schnell ab, ohne eine bestimmte Reihenfolge einzuhalten.
«Du hast bestimmt Hunger, und ich habe gar nichts Anständiges im Haus.»
«Mach dir keine Sorgen, ich geh schnell runter zu Hansis Bude und besorg uns einen Schnellimbiss. Ehrlich gesagt, ich hab einen Kohldampf und brauche bald etwas in meinem Magen.»
Die Buchstaben in «Hansis Bude» strahlten von weither in fritten-goldenem Schriftzug. «Mensch, endlich wieder eine würzige Currywurst und ein paar Fritten.» Christophers Schritte wurden länger und schneller und der Kopf senkte sich leicht nach vorne, als ob er zu einem Endspurt ansetzen würde. Er stiess die Eingangstür zu Hansis mit einer Art von grösster Dringlichkeit auf. Kein einziger Mensch war in der Bude, nicht einmal Hansi. Dunkelheit füllte den Raum, nur ein einziger Lichtstrahl strömte von der Decke auf die Theke.
«Hallo, niemand da?», kreischte Christopher.
In diesem Moment sprang eine Gestalt von hinter der Theke hervor auf die Eingangstür, drehte den Schlüssel im Schloss und auch das Schild an der Eingangstür von «Offen» auf «Geschlossen». Gleichzeit sprang eine zweite Figur auf Christopher und drückte ihm unversehens den Lauf einer Pistole in den Mund. «Na Kleiner, hast wohl Lust auf etwas Gehacktes?», sagte eine männliche Gestalt unter einer Kapuze hervor. Christopher antwortete nicht. Seine Augen durchforsteten den Raum. «Hör zu du Scheisser, mach was ich dir sage und wir haben keine Probleme. Verstehst du?» Dabei drückte er die Pistole härter auf Christophers Zunge. Christopher stand locker und gelassen da, ohne ein Wort zu verlauten. «Du störst, hast wohl von unserem gemütlichen Treffen nichts mitbekommen. Onkel Hansi wollte uns eben ein kleines Geschenk geben, weisst du, den Inhalt der Kasse. Und da kamst du rein.» Die Kapuze hebte sich und zwei stechende Augen kamen zum Vorschein. Sie wanderten über Christophers Gesicht, auf und ab und musterten ihn, um irgend etwas Unpassendes zu finden. «Aber halt», fuhr die Stimme unter der Kapuze fort, «warst du nicht im Fernsehen, ja bist du nicht der Kerl, der rumrennt, um Frieden zu schaffen? Hast dafür auch eine Auszeichnung bekommen. Bist wohl ein zäher Bursche.» Der andere Kerl stellte sich hinter Christopher. Seine Hand hielt ein Messer und fakelte es vor Christiophers Augen. «Na Friedensstifter, was machst du nun? Zeig was du kannst? Ich möchte mit dir gerne Frieden schliessen. Vielleicht zusammen eine Pfeife rauchen?»
Wie aus heiterem Himmel knallte Christophers Faust mitten ins Gesicht des Pistolenhalters. Dieser taumelte erst ein wenig und fiel dann wie ein gestossener Sandsack nach hinten, ohne jeglichen Versuch, den Rückwärtssturz verhindern zu wollen. Christopher duckte sich und das Messer, in der Hand des anderen Gauners, zischte über seinen Kopf. Als Christopher sich für einen Gegenschlag aufrichtete, sah er ein anderes Messer auf sich zukommen, diesmal in der linken Hand des Messerstechers. Es rammte sich tief in den Bauch von Christopher. Überrascht und schockiert schaute Christopher auf seinen Bauch. In diesem Moment wurde ihm das erste Messer mit der rechten Hand reingestossen. Ohne die Messer rauszuziehen, drehte der Täter beide Messer mehrmals und gleichzeitig in einer kreisförmigen Bewegung. «Hast wohl einen schöneren Tod erwartet, du Held. Nur so ein kleines Abschiedsgeschenk von mir, du hast es verdient. Tschüss!»

Heute, einige Jahre danach, steht auf dem hiesigen Friedhof ein kleines, braunes Kreuz mit der Inschrift:

Christopher Böll,
Soldat

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